„Rote-Fahne“-Interview mit Stefan Engel löst fruchtbaren Streit in der Umweltfrage aus
In der Vorbereitung des IX. Parteitags nimmt die Umweltfrage einen großen Stellenwert ein. Die „Rote Fahne“ dokumentiert einen Briefwechsel, den das Interview mit Stefan Engel, Vorsitzender der MLPD, vom 4. Januar dieses Jahres ausgelöst hat.
Lieber Stefan, liebe Genossen, (...) bei aller Breite und Klasse der Darlegung der Umweltproblematik im Interview, vor allem der mittlerweile gesetzmäßigen Unvereinbarkeit des Kapitalismus mit den natürlichen Grundlagen allen höheren Lebens … und der klaren Festlegung, „dass die Arbeiterklasse ihre historische Rolle im Kampf um den Erhalt der Lebensgrundlagen in Einheit mit ihrer sozialen Befreiung begreift und strategisch die Umweltfrage in ihren Kampf für die Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung aufnimmt“, habe ich gravierende Widersprüche zu mehreren Aussagen im letzten Abschnitt des Umweltteils auf Seite 11 zur theoretischen Klärung und deren Folgen.
So sagst du, dass die bisherige Umweltbewegung „stark in Idealismus und Metaphysik befangen ist in den gesellschaftlichen und weltanschaulichen Fragen“. Das mag korrekt sein. Aber wie schwer tun wir Marxisten-Leninisten uns heute noch mit dem zugegebenermaßen schwierigen Erkenntnisprozess, dass gesellschaftliche Entwicklungen im Kapitalismus, ich nenne sie mal die Unterordnung der Naturreichtümer in den Kapitalverwertungsprozess, zu Wechselwirkungen in der Natur mit der akuten Bedrohung unserer Lebensgrundlagen geführt haben, also die Umweltkrise aus einer Begleit- zu einer gesetzmäßigen Erscheinung („Zwang der (Über-)Akkumulation“) geworden ist?
In oder eher trotz dieser Zusammenhänge wird bis heute in der „Roten Fahne“ und bei vielen weiteren Gelegenheiten verbreitet, welche positiven (technischen?) Voraussetzungen der Kapitalismus für die künftige sozialistische Gesellschaft geschaffen habe. Als Umweltmann in Sachen Klimakatastrophe kann ich da nicht einfach nur mit den Schultern zucken, sondern muss klar sagen: das ist Metaphysik pur, aus dem Vorhandensein zahlreicher umweltverträglicher Techniken und emissionsfreier Energieträger auf eine positive Einwirkung auf die (momentan rapid steigenden) Emissionsmengen und auch auf die verstärkenden Rückkopplungen in der Natur (Treibhausgase aus den ehemaligen Permanentfrostgebieten und z. B. die Erwärmung durch die Eisflächenreduzierung) zu schließen.
Von nicht vorhandenen Techniken zur wirksamen Bindung des Haupttreibhausgases Kohlendioxid oder der Minderung der zurzeit gering rückläufigen Sonneneinstrahlung als Mittel gegen die Erderwärmung gar nicht weiter zu reden. Warum bringe ich nun diese Zusammenhänge vor, obwohl sie gar nicht explizit im Interview aufgeführt sind?
Wegen der Behandlung des Aspekts, dass man nicht von Umwelt-„Zerstörung“, sondern nur von „Veränderung“ sprechen könne oder dürfe. Da gehen mir doch gleichermaßen die Galle und der Hut hoch: da hat der Imperialismus in seinen letzten Zügen nicht nur den gesellschaftlichen Fortschritt, sondern mit über fünf Grad Erderwärmung in den nächsten hundert Jahren (PIK-Potsdam und Interview) die Zerstörung der Ackerböden und der Wälder und damit der höheren Pflanzen und Tiere auf dem ganzen Planeten heute auf die Tagesordnung gesetzt (durch die immer schneller verlaufende Angleichung der Temperaturentwicklung an die CO2-Konzentration der Erdatmosphäre), und da soll man nicht von Zerstörung reden, sondern von „Deformierung“. Da sind mir aber klare Aussagen, bei denen jeder versteht, was die Stunde geschlagen hat, tausendmal lieber.
Noch zur RW-Arbeit und der Strategiediskussion in der internationalen Umweltbewegung: hier stimme ich voll zu, dass beide „nach theoretischer Klarheit schreien und dass wir unseren fundierten Beitrag dazu leisten müssen“. Aber nicht nur das: ich frage (mich), wie sich folgender Zustand erklären lässt: in der (Anti-)Atomfrage haben wir, auch im Interview, klar und komplett Stellung bezogen, ohne allerdings selbst schon wesentlich in die Kämpfe eingreifen zu können. Wie kommt es, dass wir in den „fossilen“ Industriezweigen, wo wir wie in der Auto-, Stahl- und Maschinenproduktion wohl organisatorisch ganz gut aufgestellt sind und regelmäßige (Gewerkschafts-)Arbeit machen, uns mit der Umweltarbeit für saubere Arbeitsprodukte und die neue Gesellschaft so schwer tun, obwohl die „Umweltschädlichkeit“ dieser Industrien doch zumindest in der Summe auf der Hand liegt?
Zum Schluss noch zur Frage der Umweltgewerkschaft: ich bin nur Ver.di-Mitglied und dort nicht (umwelt-)aktiv. Gewerkschaftsarbeit ist eines meiner eingangs genannten „Schwachgebiete“. Trotzdem bin ich sicher, dass die oben kurz genannte Umweltarbeit, besonders in den „fossilen Zweigen“, zunächst in die vorhandenen Gewerkschaften einziehen muss. Es geht ja um unmittelbare gravierende (Umwelt-)Folgen der von den Kolleg(inn)en bisher nicht zu verantwortenden – weil von den Chefetagen gelenkten – Produktion. Also: warum sollten künftig Belegschaften zusätzlich in einer „Umweltgewerkschaft“ und damit „doppelt“ tätig sein?
Dass ein Dachverband der Umweltbewegung gebraucht wird, ist für mich indessen klar, was aber auch auf Grund der Vielfalt der bisherigen Bewegungen schon schwierig genug sein dürfte.
In gleichermaßen kritischer wie solidarischer Vorfreude auf eure Stellungnahmen grüßt
D. S., Brombachtal
Stefan Engel antwortet:
Lieber D., (...) du äußerst „gravierende Widersprüche zu mehreren Aussagen im letzten Abschnitt des Umweltteils auf Seite 11“ und unterstreichst das auch noch mit einem sehr subjektiven Gefühl, dass dir „gleichermaßen die Galle und der Hut hochgehen“. Deine inhaltlichen Ausführungen sind aber äußerst problematisch und widersprechen auch dem Erkenntnisfortschritt der Marxisten-Leninisten.
1. Du kritisierst, dass bis heute in der „Roten Fahne“ und bei vielen anderen Gelegenheiten verbreitet wird, welche positiven „technischen Voraussetzungen der Kapitalismus für eine künftige sozialistische Gesellschaft geschaffen habe ... Das ist Metaphysik pur.“ Nein, das ist nicht „Metaphysik pur“, sondern eine dialektisch-materialistische Betrachtungsweise über die materiellen Vorbereitungen der künftigen sozialistischen Gesellschaft, die – wie Marx und Engels es bereits formuliert haben – aus der alten Gesellschaft hervorwachsen. Du kennst meinen Konspekt von Friedrich Engels über den „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ und über die „Dialektik der Natur“. In diesen Schriften macht Engels deutlich, dass mit dem Aufkommen der industriellen Produktionsweise und der modernen Naturwissenschaften die Einheit von Mensch und Natur die seither höchste Entwicklungsstufe erreicht hat. Wenn Friedrich Engels die Einheit von Mensch und Natur behandelt, so berührt das die Beherrschung der Naturgesetze und die Fähigkeit, sich die Naturressourcen zu eigen zu machen und dadurch auch zu verändern. Damals gab es noch keine vergleichbaren Zerstörungen wie sie in der Umweltkrise heute aufgetreten sind. Aber Friedrich Engels sah durchaus auch schon, wie es durch verschiedene unvorhergesehene Wirkungen zu einer Trennung von Mensch und Natur kommt.
Deine Leugnung, dass der Kapitalismus auch eine fortschrittliche Rolle in der Herstellung und Höherentwicklung der Einheit von Mensch und Natur spielen konnte, ist willkürlich und unhistorisch. Natürlich sind mit der Herausbildung des Imperialismus und noch mehr mit der Neuorganisation der internationalen Produktion diese ferneren Wirkungen der Nutzung der Naturressourcen durch den Menschen immer mehr in den Vordergrund getreten. Es geht nicht mehr darum, das Dinge nicht mehr rechtzeitig vorhergesehen werden (das gibt es auch noch), sondern darum, dass nur um der Maximalprofite willen vorsätzlich und unter vollem Risiko produziert und konsumiert wird. Ich erinnere an den Umgang mit der völlig überflüssigen Verbrennung von fossilen Rohstoffen, aber auch mit dem bisher weitgehenden Verzicht auf eine Kreislaufwirtschaft, die schonend mit den natürlichen Ressourcen umgeht. Friedrich Engels hat bereits darauf hingewiesen, dass erst in einer Gesellschaft, in der eine dialektisch-materialistische Denkweise vorherrscht und eine Produktionsweise zum Nutzen der Menschheit und nicht nur für den Maximalprofit, die Einheit von Mensch und Natur weitgehend verwirklicht werden kann.
2. Mein kritischer Hinweis zur weltanschaulichen Seite und zu metaphysischen Begriffen wie „Naturzerstörung“ bringt dich auf die Palme. Warum eigentlich? Wir können die Probleme doch nur lösen, wenn sie wissenschaftlich exakt analysiert werden. Fakt ist doch, dass sich mit der Zeit in der Umweltbewegung Begriffe herausgebildet haben, die in eine falsche Richtung ihrer Lösung weisen. Richtig wäre es, von der „Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit“ zu sprechen, statt von „Umweltzerstörung“ oder „Naturzerstörung“. Was hätte das damit zu tun, dass man Materie nicht zerstören, sondern höchstens umwandeln kann? Man kann sie so verwandeln, dass dies in Einheit mit dem menschlichen Leben geschieht. Man kann sie aber auch so umwandeln, dass sie sich gegen das menschliche Leben stellt. Darum geht es im Grunde genommen. Der Begriff der „Umweltzerstörung“ als solcher ist insofern undialektisch. Man muss ihn nicht unbedingt ersetzen, wenn er in einem klaren Zusammenhang benutzt wird. Wenn man aber gemeinhin die Zerstörung der Umwelt kritisiert, dann wäre das das Gegenteil davon, die Umwelt unter allen Umständen zu erhalten. Das ist aber undialektisch, denn die ganze Existenz der Menschheit besteht ja gerade darin, auf die Umwelt und die Natur Einfluss zu nehmen, sie in gewissem Maße auch umzugestalten. Es geht nicht darum, dass die Menschheit aufhört zu existieren und damit die Natur zufrieden lässt, wie es manche Umweltschützer behaupten, sondern darum, dass die Eingriffe in die Natur in Einheit mit der Erhaltung und Höherentwicklung der Lebensgrundlagen der Menschheit geschieht.
3. Dein Brief ist von einem weitgehenden Skeptizismus geprägt, als wäre es schon fast zwecklos, richtig an die Fragen heranzugehen. In der Umweltfrage nützt kein blinder Radikalismus, sondern müssen wir gezielt arbeiten und unsere Kräfte auf die Fragen konzentrieren, die tatsächlich entscheidend sind. Deshalb ist eine Strategiedebatte notwendig und auch eine theoretische Arbeit der MLPD. Es ist auch eine Tatsache, dass in der Umweltbewegung zwar viele gute Erkenntnisse gemacht werden, aber die Problematik insgesamt noch unterschätzt wird. Davon ist auch die MLPD nicht ausgenommen. Das hat nicht nur etwas damit zu tun, dass man zu wenig konkretes Material zur Verfügung hätte, sondern dass die Dinge noch nicht bis auf den Grund verstanden und damit auch nicht einer Lösung zugeführt werden können. Wir haben noch beschränkte Möglichkeiten, auf die heutige Umweltbewegung Einfluss zu nehmen. Diese müssen aber darauf konzentriert werden, die Kräfte umzugestalten und eine neue Qualität der Umweltbewegung durchzusetzen. Dafür gibt es keinen anderen Weg als systematische Überzeugungsarbeit unter den Massen.
4. Deine Ausführung zur Umweltgewerkschaft: Die Umweltgewerkschaft hat überhaupt nichts mit einer Gewerkschaft zu tun, die sich mit Lohn- und Arbeitsbedingungen der werktätigen Massen befasst. Es ist international längst üblich, auch den Begriff der Gewerkschaften in anderen Bereichen anzuwenden. So gibt es international eine Reihe von „Frauengewerkschaften“ oder auch „Studentengewerkschaften“. Das hat etwas damit zu tun, dass die Gewerkschaft eine bestimmte Organisationsform der Massen ist – im Unterschied zu einer Partei. Gleichzeitig drücken diese Begriffe auch aus, dass sie sich mit der Arbeiterbewegung verbunden fühlen. Wenn wir heute den Vorschlag unterstützen, eine Umweltgewerkschaft aufzubauen, so steht das nicht im Widerspruch zu den Industriegewerkschaften, die die Massenorganisationen im Kampf für die Verteidigung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sind. Natürlich ist es notwendig, dass man sich sowohl in diesen Gewerkschaften organisiert, als auch in einer Massenorganisation der Umwelt, die den Kampf gegen die drohende Umweltkatastrophe zum Inhalt hat und die ihren Hauptstoß gegen die Monopole und ihre kapitalistische Produktionsweise auf dem heutigen Niveau richtet. Die Frage, die doch in erster Linie diskutiert werden muss ist, ob die Umweltbewegung überhaupt eine breite Organisation braucht oder nicht. Die zweite Frage ist, ob sie einen Massencharakter haben soll oder einen Parteicharakter. Die dritte Frage ist doch dann: Wenn man klar hat, dass wir eine überparteiliche, demokratische Massenorganisation im Kampf zum Schutz der natürlichen Umwelt brauchen, dann muss man dafür auch eine zweckmäßige Organisationsform finden, die insbesondere darauf ausgerichtet ist, die Arbeiterklasse anzusprechen und sie zum Hauptakteur der Verteidigung der natürlichen Grundlagen der Menschheit zu machen. Das ist der Grund, warum der Charakter und der Name „Umweltgewerkschaft“ auch sinnvoll sind. Die Ausgestaltung und alles andere ist dann Frage der Umsetzung und liegt natürlich in der selbständigen Entscheidung einer solchen qualitativ höherentwickelten Umweltbewegung selbst.
Herzliche Grüße, Stefan Engel