Droht ein Zusammenbruch der Stromnetze bei sofortiger AKW-Abschaltung?

Droht ein Zusammenbruch der Stromnetze bei sofortiger AKW-Abschaltung?

„Rote-Fahne“-Interview mit Professor Dr. Ing. Josef Lutz, Technische Universität Chemnitz

Herr Prof. Lutz, die Atomenergiebetreiber behaupten, dass eine sofortige Abschaltung der Kernkraftwerke nicht möglich sei und zum Zusammenbruch der Stromleitungen führen würde?

Ende Mai waren nur 4 der 17 deutschen Atomkraftwerke am Netz – aus technischen Problemen oder aufgrund von geplanten Revisionsarbeiten. Nichts ist zusammengebrochen. Allein das spricht gegen diese Behauptung. Man muss sich mit der Struktur unserer Stromversorgung genauer beschäftigen.
Der Verbrauch elektrischer Energie folgt im Mittel einem bestimmten Verbrauchszyklus am Tag. Demnach wird zu Spitzenzeiten mehr als das Doppelte an Energie als in der Nacht verbraucht. Wir unterscheiden zwischen Grundlast und Spitzenlast. Die Verbrauchsgewohnheiten der Industriegesellschaften sind weitgehend voraussehbar. Als Folge daraus gibt es „Schattenkraftwerke“, z. B. Gasturbinenkraftwerke, schnell regelbar und hochfahrbar, die nur für einen Teil des Tages, in Einzelfällen gar nur in Spitzenzeiten zugeschaltet werden. Strom für Spitzenlasten wird zu höherem Preis gehandelt, es ist dafür ein Börsenhandel entstanden. Der Sitz der Energiebörse ist Leipzig. Strom wird in Paketen von Stunden bis herunter zu Minuten gehandelt. Für Regelenergie werden sehr hohe Preise erzielt.
Besteht andererseits Stromüberschuss, so kann der Preis in die Nähe von Null oder sogar darunter fallen: Man bekommt Geld, wenn man den überschüssigen Strom abnimmt. Oder es werden Windparks vom Netz genommen und der Eigentümer trotzdem vergütet.
Wenn im Netz ein Problem zu erwarten ist, dann zu Spitzenlastzeiten. Atomkraftwerke dagegen gehören zur Grundlast. Auch das zeigt, dass die genannte Behauptung genauso ein durchsichtiges Scheinargument ist wie das Märchen von den ausgehenden Lichtern.

Wie kann man sich die Einspeisung in die Netze vorstellen?

Die elektrotechnischen Gesetzmäßigkeiten dieses Netzes kann man sich anhand des Bilds eines Beckens mit verschiedenen Einspeisern und Verbrauchern vorstellen (siehe Grafik unten). Die Füllhöhe muss konstant sein (±5%), z. B. die Wechselspannung muss 230V ± 5% betragen, die Frequenz 50Hz ± 0,1Hz. Bei Abweichungen können Anlagen in Industrie und Haushalt gestört werden. Die Energieversorger müssen diese „Energiequalität“ sicherstellen. Dazu sind bei Bedarf weitere Erzeuger zuzuschalten, bei Überschuss wegzunehmen. Eine Besonderheit: Das „Becken“ hat so gut wie keine Möglichkeit zu speichern. Würden alle Einspeiser ausfallen, so „reicht“ der Inhalt des „Beckens“ nur für zirka 0,3 Sekunden. In Zukunft müssen Windenergie und Solarenergie den größten Teil unseres Stroms decken. Da das Energieangebot aus Wind und Photovoltaik von der Natur vorgegeben ist und nicht immer dem tatsächlichen Bedarf folgt, ist dies, wenn wir eine nationale Lösung anstreben, mit einem Ausbau von Anlagen zur Energiespeicherung verbunden. Von diesen Speichern sind die Pumpspeicherkraftwerke in der Höchstspannungsebene ausgereift und bewährt. Große Speicher aus Bleibatterien bewährten sich zur Aufrechterhaltung der Energiequalität im einstigen „Inselnetz“ West-Berlin. Auch gibt es Pilotanlagen zu Druckluftspeichern, unterirdische Kavernen können dafür genutzt werden. Wir müssen in Deutschland davon ausgehen, dass wir z. B. im November über mehrere Wochen wenig Sonne und wenig Wind haben. Speicher für so große Energiemengen zu bauen, ist technisch möglich, aber ein sehr großer Aufwand.

In den Medien taucht jetzt die Frage nach neuen Stromnetzen auf. Sogenannte Hochspannungsgleichstromübertragung (HGÜ). Welche Bedeutung haben sie?

HGÜ bedeutet Transformation des Wechselstroms auf hohe Spannung, Gleichrichtung, Übertragung, anschließend wieder Wandlung zu Wechselstrom. Die Energieübertragung mittels HGÜ ist auch über große Strecken verlustarm möglich. In China ging vor kurzem eine HGÜ-Leitung über 2.000 Kilometer, Kapazität 7,2 GW, in Betrieb. Die Technik kommt aus Europa (Siemens, ABB). Eine HGÜ-Leitung kann gegenüber einer 380 kV Freileitung bei gleichem Leitungsquerschnitt die dreifache Energie übertragen. Dazu ist die Verlegung unter Wasser oder unter der Erde möglich.
Die HGÜ ist keine Technik ferner Zukunft. 2009 ging eine Leitung durch die Nordsee von Norwegen nach Holland in Betrieb. Eine weitere HGÜ-Leitung der Übertragungsleistung 1,4 GW von Norwegen nach Deutschland wird von norwegischer Seite seit längerem angestrebt und geplant. Erst im November 2010 gab es nach langer Verzögerung eine Genehmigung durch die Bundesnetzagentur. Das Konsortium aus vier norwegischen und einem Schweizer Konzern will norwegischen Strom aus Wasserkraft, der nach Bedarf geregelt werden kann, als Regelenergie auf den deutschen Markt bringen. Bei einem HGÜ-Netz in Europa könnte man den optimalen Standort für die jeweilige Form der regenerativen Energie nutzen. Da es sehr selten ist, dass gleichzeitig in Norwegen kein Wind weht und in Spanien keine Sonne scheint, wird der Aufwand an Speichertechnik nun viel geringer. Energie aus Geothermie, Biomasse und Wasserkraft kann als Regelenergie eingesetzt werden zum Ausgleich von Schwankungen von Photovoltaik und Wind.
Daher halte ich sehr viel von einem Szenario eines durch HGÜ vernetzten Europas. Es ließe sich die Versorgung Europas mit elektrischem Strom in überschaubarer Zeit auf 100 Prozent erneuerbare Energie umstellen. Die HGÜ-Leitung kann durch Gebiete mit schützenswerter Landschaft unterirdisch verlegt werden. Der Eingriff in die Natur ist vergleichsweise gering.

Allerdings sagen die Netzbetreiber, dass HGÜ große Investitionen verlangt, erst gebaut werden muss und in der Zeit die AKW und die fossile Verbrennung als Brückentechnologie unvermeidlich seien.

Sicher muss das erst gebaut werden. Aber das könnte flott gehen. Wir hatten Anfang Juni an der TU Chemnitz einen Vortrag eines Spezialisten dazu. In China, berichtete er, sind in den nächsten zehn Jahren HGÜ-Leitungen im Umfang von 200 GW projektiert. Zur Veranschaulichung, ein GW ist die Leistung eines Großkraftwerks. Und 200 GW würden, vorsichtig geschätzt, auch für das oben genannte Szenario in Europa in etwa ausreichen. Der Löwenanteil der Energie sollte regional erzeugt werden, das internationale System würde die Versorgungssicherheit gewährleisten. Insofern geben uns die zehn Jahre einen Anhaltspunkt, wann wir in Europa auch auf fossile Verbrennung zu 100 Prozent verzichten könnten.

Stimmen denn die offiziellen Hochrechnungen über den künftig wachsenden Strombedarf? Muss man nicht sowohl die Rationalisierungspotenziale bei der Stromerzeugung als auch bei der Einsparung des Stromverbrauchs berücksichtigen?

Es gibt zunehmende Verbraucher elektrischer Energie. 2007 verbrauchte die Computertechnik – vor allem auch die das Internet stützenden Server – bereits 10 Prozent des Weltstroms. Es wurde erwartet, dass sich bis zum Jahr 2011 die Zahl der Server weltweit noch verdreifacht. (1) Der Löwenanteil der Energie wird bei Rechnern in den Prozessoren und deren Kühlung verbraucht. Die Prozessoren wurden bisher vor allem unter dem Gesichtspunkt der Rechenleistung optimiert.
Auf der anderen Seite steht der technische Fortschritt, vor allem durch die elektronische Steuerung von Elektromotoren mittels Leistungselektronik. So ist in Deutschland seit mehr als zehn Jahren die verbrauchte Strommenge (etwas über 500 TWh) ebenso wie der Primärenergieverbrauch bei immer höherer Produktion nicht wesentlich verändert, der Stromverbrauch ist nur wenig gestiegen (Bild links). Er liegt 2010 unter dem des Jahres 2005. Würde mehr für den effizienten Umgang mit elektrischer Energie getan, vor allem in der Kommunikationstechnik, ließe sich noch viel Verschwendung vermeiden, ohne Abstriche am Lebensstandard.
Auch künftige neue Verbraucher wie Elektrofahrzeuge werden voraussichtlich nicht zu einem höheren Strombedarf führen. Die VDE-Studie „Elektrofahrzeuge“ kommt zum Schluss: Eine Million angenommener Elektroautos verbrauchen etwa 0,25 Prozent der in Deutschland pro Jahr genutzten elektrischen Energie.(2) Allerdings nimmt weltweit der Verbrauch elektrischer Energie zu, insbesondere in aufstrebenden Ländern – China, Indien, Brasilien und andere. Dies ist eine weitaus höhere Herausforderung.

Vielen Dank für das Gespräch!


Quellen:
(1) Brehm et al, PCIM 2007     
(2) VDE-Studie „Elektrofahrzeuge“, April 2010