EHEC – Seuche in krankhaftem System
Die EHEC-Welle ist noch nicht vorbei, aber sie hat ihren Gipfelpunkt wohl vorerst hinter sich gebracht, die Zahl der Neuerkrankungen sinkt stetig. Sie hinterlässt bei uns über 3.400 zum Teil schwer erkrankte Menschen und mindestens 38 Tote (Stand: 17. 6.), die Zahl der stumm infizierten Menschen wird im Dunkeln bleiben. Zurück bleibt auch eine Vielzahl von Gemüsebauern und -händlern, die staatliches Missmanagement zum Teil an den Rand oder um ihre Existenz gebracht hat. Eine Menge verunsicherter Menschen fragt sich, was das alles zu bedeuten hatte, und sucht – meist vergeblich – nach befriedigenden Antworten auf das Geschehene.
Der EHEC-Seuchenzug wurde und wird durch ein Zusammenwirken ganz unterschiedlicher Seiten eines kranken Systems bewirkt, das Kapitalismus heißt:
Der Keim
Da ist zum einen der krankmachende Keim selbst, das Bakterium Escherichia coli. Es ist als natürlicher und nützlicher Bestandteil der Darmflora von Mensch und Tier praktisch allgegenwärtig. Nun ist aber Bakterium nicht gleich Bakterium, denn die haben die natürliche Tendenz, durch genetische Veränderungen (über Austausch von genetischem Material oder durch Mutationen) eine Vielzahl von Stämmen mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften auszubilden. Von Escherichia coli gibt es über zehntausend Varianten und der EHEC-Erreger ist einer davon (siehe auch Artikel „Hintergründe …“ auf S. 7).
Da braucht es nicht zu verwundern, dass immer wieder neue Bakterienvarianten auftauchen, im Gegenteil, ihr Auftreten ist eine Gesetzmäßigkeit, die sich nicht verhindern lässt. Das ist im Kapitalismus so, das wird auch im Sozialismus nicht anders sein. Die meisten Stämme sind ungefährlich, einige sogar nützlich, viele verschwinden einfach wieder, aber manche haben eben auch mehr oder weniger krankmachende Eigenschaften, die unter ungünstigen Umständen zu einer Epidemie führen können. Da braucht man nicht immer gleich an künstlich hergestellte Biowaffen aus militärischen Geheimlabors zu denken, auch wenn den imperialistischen Mächten grundsätzlich jede Schweinerei zur Erreichung ihrer Ziele zugetraut werden muss. Solange aber keine konkreten belastbaren Indizien vorliegen, sollte man mit derartigen Spekulationen zurückhaltend sein, sonst landet man schnell in
der Ecke unseriöser Verschwörungstheoretiker (s. dazu S. 7). Wer sich angesichts komple-
xer Vorgänge auf die Suche nach einfachen Lösungen beschränkt, wird der Sache nicht auf den Grund gehen können.
Maximalprofit und Fahrlässigkeit
Eine ganz andere Frage ist, wie man mit der beständigen Gefahr neuartiger Keime umgeht. Das ist vor allem eine gesellschaftliche Aufgabe und hier sollte eigentlich Vorsorge in einem umfassenden Sinn das oberste Gebot sein.
Das fängt schon bei einer artgerechten Haltung und Fütterung unseres Viehs an, die für eine intakte Immunabwehr und ein ausgeglichenes Keimmilieu im Verdauungstrakt der Wiederkäuer sorgen und so eine übermäßige Vermehrung schädlicher säureresistenter Bakterien wie EHEC verhindern. Eine einseitig auf Hochleistungsproduktion ausgerichtete kapitalistische Landwirtschaft kann diese Anforderungen nicht erfüllen. Genau die ist aber vom System gewollt und entsprechend gesteuert, z. B. durch entsprechende Subventionsrichtlinien der EU.
Damit zusammen hängt auch der übersteigerte und oft nicht sachgerechte Einsatz von Antibiotika im Stall und im öffentlichen Gesundheitswesen, der bekanntlich zu immer zahlreicheren und schwerwiegenderen Fällen von Antibiotika-Resistenzen bei Keimen (wie auch EHEC) führt, was von einer am Maximalprofit interessierten Pharmaindustrie gesponsert und von verantwortungslosen, weil vor allem umsatzorientierten Teilen der Ärzteschaft allzu fahrlässig umgesetzt wird.
Das Vorsorgeprinzip wird auch bei der Entsorgung tierischer und menschlicher Hinterlassenschaften mit Füßen getreten. Sie werden bei uns unbehandelt als Gülle oder Klärschlämme auf Äcker, Felder und Wiesen ausgebracht, wohl wissend, dass es sich dabei um die reinsten Keimschleudern handelt. Die Keime werden dann über die Wurzeln in die Pflanze aufgenommen, sodass selbst das gründlichste Waschen nichts mehr nutzt. Bei Klärschlämmen kommen verschärfend industrielle Rückstände und Schadstoffe dazu, die zum Teil mutagene Wirkung entfalten können, sodass so mancher Acker in Wirklichkeit ein biochemisches Versuchsfeld ist. In der Schweiz ist die Klärschlamm-Düngung deshalb schon lange verboten, bei uns ist sie alltägliche Praxis.
Desinformation und Desorganisation
Wie „wichtig“ der bürgerlichen Politik ein wirksames und vorbeugendes Gesundheitsmanagement ist, lässt sich auch an der seit Jahren chronischen Unterbesetzung in
den Lebensmittelbehörden und Gesundheitsämtern ablesen. Noch unter Ägide von Rot-Grün wurde trotz fortgesetzter Skandale wie BSE oder Vogelgrippe sogar noch Personal abgebaut. Selbst das Robert-Koch-Institut, oberster Gesundheitswächter der Republik, beklagte einen Mangel an Personal als einen der Hauptgründe für die langen Ermittlungszeiträume.
Daneben offenbarten sich hier aber auch Defizite fachlicher und organisatorischer Art, die man nur als institutionalisierte Desorganisation und Desinformation bezeichnen kann. So vergingen vom Auftreten der ersten EHEC-Fälle bis zur ersten offiziellen Warnung mindestens 14 Tage. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass das Institut an den Wochenenden gar nicht besetzt war und die amtlichen Meldungen der Landesbehörden – nein, nicht mit der Postkutsche, aber doch per Briefpost – an das RKI weitergeleitet wurden, und das im Zeitalter von Internet und E-Mail.
Die ersten vagen Verdachtsmomente (EHEC-Keime auf Gurken) wurden panikartig zum Anlass genommen, pauschal vor dem Verzehr von Gurken, Salaten und Tomaten zu warnen und damit die betroffenen Erzeuger und Handelsbereiche in eine krisenhafte Lage zu manövrieren und gleichzeitig die Verbraucher in einer falschen Sicherheit zu wiegen. Denn die eigentlichen Krankheitsträger, Sprossen, blieben dabei außen vor, obwohl sie in Fachkreisen schon lange als EHEC-Überträger bekannt sind und auch von Anfang an entsprechende Hinweise vorlagen, die aber durch das RKI ignoriert wurden. In gleicher national-ignoranter Weise wurden internationale Unterstützungsangebote abgelehnt, obwohl dort zum Teil mehr Erfahrungen im Kampf gegen EHEC vorlagen (z. B. USA und Japan).
Es ist richtig, jetzt auch konkrete Einzelforderungen zu erheben wie die Einrichtung einer zentralen „Taskforce“ statt föderalistischem Kompetenzwirrwarr; die Effektivierung des Meldesystems bei Epidemieausbrüchen usw.; auch eine stärkere Lebensmittelüberwachung ist sinnvoll, selbst wenn letztlich immer nur Stichproben getestet werden können. Das umfasst auch eine breite Aufklärung über richtiges Hygieneverhalten zum Beispiel in Großküchen, auf Märkten oder im privaten Bereich.
Allerdings: die strukturellen Mängel dieses auf Profit ausgerichteten Systems werden so nicht aus der Welt geschafft. Um die berechtigten Forderungen nach einer tier- und menschengerechten landwirtschaftlichen Produktion und Lebensmittelherstellung zu erfüllen, die Mensch und Tier angemessen ernährt, ihre Gesundheit erhält und fördert, muss zuallererst das monopolkapitalistische Primat des Maximalprofits in Frage gestellt und letztlich über Bord gekippt werden.
Das ist die grundlegende Voraussetzung für eine planmäßige und bedürfnisgerechte gesellschaftliche Produktion, die die Einheit von Mensch und Natur wahrt und den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess nutzt für die beständige Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung. Dann könnte auch die nächste EHEC-Welle kommen – denn dann ist Sozialismus!